Man lebt nur einmal

Yousef Kargar

RST ist nicht nur in seinem Kerngeschäft für innovative unkonventionelle Lösungen bekannt. Auch hausinterne Herausforderungen, wie der allgegenwärtige Fachkräftemangel werden so angegangen. Ein Beleg dafür ist Yousef Kargar – das neue Gesicht an Bord von RST. Der iranische Bauingenieur und RST haben sich ganz aufeinander eingelassen. Das ist vielleicht ein Wagnis, aber ganz sicher auch eine Chance und vor allem eine Bereicherung für beide Seiten. 

Der Fachkräftemangel macht auch vor der Baubranche und RST nicht halt. Die Herausforderungen in allen Gewerken sind beträchtlich. Bei deren Bewältigung geht RST jetzt mit der Einstellung von Yousef Kargar einen neuen Weg. Das ist eine Herausforderung für beide Seiten. Kann die Integration eines iranischen Bauingenieurs in deutsche Betriebsabläufe und in das sicher nicht einfache deutsche Baugeschäft gelingen? Doch auch für Yousef Kargar ist der Wechsel nach Deutschland eine immense Herausforderung.

Der 35 Jahre alte Bauingenieur aus Gerasch, einer Stadt im Süden Irans, spricht mit der Bedachtsamkeit eines Menschen, der zuerst zuhört, abwägt um dann überlegt seine Gedanken zu formulieren. Sein Deutsch ist noch nicht ganz perfekt, aber niemand käme auf den Gedanken, dass er erst seit vier Monaten in Deutschland ist. So bewusst und zielgerichtet er seine Gedanken äußert, so reflektiert blickt er auf sein bisheriges Leben. „Ich habe die Hälfte meines Lebens gelebt und bin noch immer nicht da, wo ich hinwollte. Im Gegenteil, die politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse im Iran sind mittlerweile so, dass ich für mich in diesem Land einfach keine Perspektive mehr sehe“ fasst er seine Beweggründe zusammen. Neben der bedrückenden politischen Situation machten ihm, seinen Eltern und den neun Geschwistern vor allen die starke Inflation, immense Preissteigerungen und der Mangel an vielen lebensnotwendigen Gütern das Leben immer schwerer. „Viele junge, gut ausgebildete Iraner empfinden das ebenso und wollen das Land verlassen. Das ist traurig, aber man lebt nur einmal.“

So reift bei dem studierten Bauingenieur allmählich der Entschluss, das Schicksal mit einer Ausreise in eigene Hände zu nehmen. Einige Studienfreunde hatten diesen Schritt bereits gewagt und waren nach Deutschland ausgewandert. „Sie haben mir den Weg nach Deutschland gezeigt.“ Das Wichtigste auf diesem Weg ist die deutsche Sprache. Also begann er im Selbststudium nach Feierabend Deutsch zu lernen. In Videochats mit seinen iranischen Freunden, die schon in Deutschland waren, oder die wie er nach Deutschland wollten, verbesserte er seine Aussprache. Nach zwei Jahren suchte er in Jobportalen passenden Arbeitsstellen und stieß auf Anzeigen von RST – das schien zu passen. In mehreren Videochats, zunächst mit dem technischen Leiter Tobias Unglaub und dem Personalchef Sascha Meusel, später auch mit Geschäftsführer Carl Finck, lernte man sich kennen.

„Das Deutschland in der Baubranche eine gute Perspektive für Fachkräfte bietet, wusste ich bereits. Aber das Verständnis für mich, das Eingehen auf meine Fragen und Wünsche, das große Entgegenkommen – das hat mich schon sehr überrascht“ blickt der Hochbauspezialist zurück. Rasch ist man sich einig und stimmt das weitere Vorgehen ab.

Zunächst brauchte er einen Arbeitsvertrag, mit dem bei der Zentralstelle für Arbeitsvermittlung und der Ausländerbehörde einen Antrag auf Arbeitserlaubnis zu stellen war. Als die vorlag, beantragte er bei der Deutschen Botschaft in Teheran ein Visum für einen Arbeitsaufenthalt (nach § 18b Abs. 1 AufenthG – Fachkräfte mit akademischer Ausbildung), dass nach wenigen Wochen genehmigt wurde.

Dann springt Yousef Kargar ins kalte Wasser und reist aus seiner warmen iranischen Heimat in das verregnete Deutschland, direkt nach Thale. Aber das Wetter ist nicht die einzige Herausforderung. Ganz allein in einem neuen, aber fremden Land mit ungewohnter Sprache und fremder Kultur – das ist nicht einfach. Dazu kommt der berufliche Neuanfang. Der Bauprofi, der zuletzt in einer mittelständischen iranischen Firma als Senior-Bauleiter tätig war, kann seine umfangreichen Erfahrungen zunächst praktisch nicht einbringen.

Aber RST hat nicht nur den gesamten Prozess der Visabeantragung und der Ausreise logistisch und finanziell unterstützt. Auch der Neustart in Blankenburg ist gut vorbereitet. RST stellt dem Neuankömmling eine Wohnung und unterstützt ihn bei allen Formalitäten, die Behörden, Steuern, Banken und Versicherungen erfordern. Nach einer Einarbeitungszeit, in der er den Betrieb, aktuelle Projekte und die Mitarbeiter kennenlernt, sammelt er nun als Assistent von Bauleiter Burghardt Fügener auf der Baustelle bei NOVELIS in Nachterstedt erste praktische Erfahrungen.

„Bauprojekte laufen eigentlich immer gleich ab, überall auf der Welt. Da bin ich Profi und habe keine Bedenken. Aber natürlich ist hier vieles auch anders: die gesetzlichen Rahmenbedingungen, Baumaterialien und die technische Ausstattung, hier muss ich noch viel lernen“ weiß Yousef Kargar. Genauso wichtig ist ihm aber auch das kulturelle Umfeld. Denn er weiß, dass gerade in der Baubranche vieles von Menschen und dem richtigen Umgang mit ihnen abhängt. Und das geht nur, wenn auch die Landeskultur kein Niemandsland ist.

„Sehr beeindruckt bin ich vom grundsätzlich kollegialen Betriebsklima. Die Kollegen sind füreinander da und alle stehen mir mit Rat und Tat zur Seite. Ich fühle mich akzeptiert und gut aufgehoben.“ Besonders Bauleiter Burghardt Fügener führt den Iraner nicht nur in das deutsche Baugeschäft ein, sondern erweist sich auch als kompetenter Führer durch deutsche Koch-, Ess- und Trinkgewohnheiten. 

Nach Feierabend chattet Yousef mit seiner Familie, geht regelmäßig ins Fitness-Studio oder sieht sich Filme in deutsche Sprache an. An Wochenenden trifft er sich auch mal mit iranischen Studienfreunden, die schon länger in Deutschland leben und arbeiten. „Natürlich möchte ich das Leben genießen, viel Reisen, Freunde treffen“ schmunzelt der junge Mann.  Aber zunächst steht anderes, etwa der deutsche Führerschein im Fokus, da der iranische nur sechs Monate gilt. Den theoretischen Teil hat er bereits erfolgreich abgelegt. „Vor allem aber möchte ich schnellstmöglich ein vollwertiger Mitarbeiter von RST werden, meine Erfahrungen einbringen und eigenverantwortlich als Bauleiter Projekte realisieren.“